Der Westturm (Jugendherberge) wurde 1932 erbaut nach dem Vorbild des alten, abgebrochenen Westturms, der noch weiter am Ufer stand. Warum hat eine Jugendherberge aus den 1930ern, die eigentlich im Art-déco Stil designed sein müsste, einen (neu-) gotischen Helm ? Der alte Turm war der Rest einer um 1600 gebauten Kirche, die 1855 bis auf den Turm unterging. Schaurige Geschichte … Noch heute wirkt der einsam in der flachen Landschaft stehende Turm unwirklich und unheimlich, jedenfalls von Weitem.
Warum Wangerooge ?
Mal ist die Nordsee doof, mal können wir mit der Ostsee nichts anfangen. Die Ostsee ist eher für den Sommer geeignet : Blauer Himmel, hüglige Landschaft, Kiefernwälder, schnell zugängliche, abwechslungsreiche Strände, für die man nicht erst endlose Marschwiesen, hohe Deiche und Schlick bis zum Horizont überwinden muss. Doch diesmal war die Nordsee verlockender :
- Kürzester Radius von Paderborn aus zu einem beliebigen Meer (über B64, A33, A30, A1, A29, B210, B461, und voilà, schon ist man da.
- Vor dem Fenster der beliebte Schiffahrtweg von Hamburg durch den Channel Richtung Atlantik mit Anbindung an West-Europa und die westliche Welt. Irgendwie beruhigend.
- Immer genügend Trost-spendende Windräder in Sichtweite.
- Das neue LNG-Terminal Schiff Höegh Esperanza liegt in 25 km Entfernung vor Wilhelmshaven. Wir sind also am Rande des Epizentrums der aktuellen energetisch-ökonomischen Dynamik.
In Wangerooge fanden wir eine einigemaßen, jedenfalls für niedersächsische Nordsee-Verhältnisse modern-helle Wohnung (integrativer Teil einer äußerlich hässlichen Appartment-Bausünde im Stil der 1990er Jahre – angeblich, aber nicht glaubhaft neueren Datums), zu teuer, aber noch akzeptabel. In Wangerooge gibt es zwei Hauptstraßen : eine in Nord-Süd-Richtung, die andere Ost-West. Am Schnittpunkt nun unsere Bude.
Gewöhnungsbedürftig: Das Fehlen von Autos. Es fahren (bzw. Hoppeln über die puckeligen Klinker-Straßen) ein paar Batterie-betriebene Zugkarren mit Anhängern, um die Insel-Logistik zu leisten. Jede Kiste Bier, Palette Ziegelsteine oder Flachbild-Fernseher wird mit solchen Vehikeln von „Fuhrunternehmen“ durch die Gegend gezogen. Echte Insulaner fahren auch elektrische Lastenfahrräder vom Typ Long John.
Wangerooge scheint uns eine stille, fast vergessene Insel zu sein. Die großen Touristenströme bevorzugen Norderney, Borkum, Langeoog, vielleicht noch Juist und Spiekeroog. Das sieht man schon auf der deutschen Seite am Fährterminal, zutreffender gesagt „Anleger“. Betrieben, wie auch das Schiff und die Zubringer-Bahn auf der Insel, von der Deutschen Bahn. Es geht geruhsam, umständlich, altertümlich und rumpelig zu. Keine Gastronomie, noch nicht mal ein Coffee-to-go. Erinnerung an die Fahrt nach Langeoog: Schon 2013 fanden wir in Bensersiel ein cooles Terminal mit Shoppingzone und internationaler Travel-Atmosphäre vor – war aber auch nicht besser. Das pflichtgemäße Abstellen des Autos am Hafenparkplatz war nur in einem Zeitfenster von 60 Minuten vor Abfahrt möglich. Wir waren zu früh und standen bis zum Öffnen des Zeitfensters demnach illegal in der Gegend. Bis Harlesiel brauchten wir 2 Stunden 45, für die restlichen 10 km (Luftlinie) weitere 4 Stunden. Die Bahn auf Wangerooge ruckelt und rumpelt mit 1950er Jahre Material und im Fahrradtempo durch die Salzwiesen und Wattpriele. Für Touri’s am Deichrand immer ein lohnendes Fotomotiv. Nach Ankunft wälzte sich die Masse mit ihren Rollkoffern kollektiv laut bollernd, vorbei an architektonischen Verhauen der 197oer bis 90er Jahre, Richtung Ortszentrum. Ein Geräusch, welches lt. Auskunft von Miss Fisher (unser Begrüßungskommittee) die Einheimischen durch Gewöhnung angeblich nicht mehr wahrnehmen. Ganz anders schildert dieses Phänomen die Autorin Dörte Hansen in ihrem Bestseller „Zur See“, den wir hier frisch gelesen haben:
Es gibt Geräusche, die man irgendwann nicht mehr erträgt, wenn man auf einer Insel lebt: das Rollkofferrattern über Kopfsteinpflaster oder den Dieselmotor eines Gastro-Lasters, der jeden Montag von der Fähre an die Promenade rollt und allen Hafenrestaurants das gleiche vorgekochte Essen liefert. Der Fischertopf im Anker schmeckt wie die Nordseepfanne im Klabautermann, schmeckt wie der Schifferteller der Kajüte, weil alle nur mit Wasserbad und Mikrowelle kochen.
Dazu können wir nichts sagen, weil wir keine Essen-Geher sind. Es mag auch sein, dass der Gastro-Laster nicht so einfach bis Wangerooge durchkommt. Erster Insel-Eindruck: Seit unserem Tagesausflug hierhin im Sommer 2003 hat sich erstmal wenig verändert. Keine Neubauten, nichts Zeitgemäßes, alles irgendwie in die Jahre gekommen – was die ortsbildprägenden großen Klötze betrifft. Aber: Wenn man durch die Nebenstraßen wandert, entdeckt man ab und zu Beispiele einer kleinen Modernisierungs- und Neubauwelle, die, baustilistisch beurteilt, zwischen 1998 und 2008 stattgefunden haben muss.
Montag, 6. März 2023
Das Wetter : kalt, aber nicht hoffnungslos. Immerhin schien die Sonne. Wir wanderten an der Wasserkante westwärts. Abschnittsweise war nicht mal mehr Strand vorhanden – die Brandung lief auf der befestigten Düne aus – düstere Aussichten für den Küstenschutz. Ab Sichtkontakt zur Insel Spiekeroog wurde es sogar schön. Wir hatten einen grandiosen Blick über das sonnenglitzernde Gatt zwischen den Inseln, schauten bis nach Deutschland hinüber und sahen die Schornsteine des Raffinerie-Komplexes bei Wilhelmshaven. Bei solchen Anblicken fühlt man sich aufgehobener als in Richtung offene Nordsee. Am Westturm, der von der Jugendherberge genutzt wird und einen verlassenen Eindruck machte, trieben sich Kerle mit orangenen Westen herum. Sie waren mit dem ersten Auto da, das wir auf der Insel entdeckten: Ein Lada vom Sprengstoff-Räumdienst. Später fuhr die Bahn auf einer Leerfahrt ohne Passagiere oder Gepäck vorbei. Zu Fuß waren es 9,5 km.
Dienstag, 7. März 2023
Morgens abschreckendes Wetter : Schneeregen, starker Wind, aufgewühlte Nordsee. Ab Vormittag teilweise sonnig. Wir unternahmen einen Gang südlich des Flugplatzes bis zu Haus Neudeich und wieder zurück durch, ja, wodurch ? Wald kann man es nicht nennen. Auf unserer folgenden aufsteigenden Skala:
- Wiese
- Unkraut
- Gestrüpp
- Gebüsch
- Gehölz
- Wald
liegt das Gebiet auf Punkt 5. Der Wind war so stark, dass wir die Kaputze festhalten und schräg gehen mussten. Nach dem enttäuschenden Experiment bei Bäcker „Bolte“ (kein wirklicher Bäcker, sondern eine von Fachfremden geführte Backwaren-Verkaufsstelle) kauften wir heute bei der von Miss Fisher empfohlenen Bäckerei Kruse für den Nachmittags-Kaffee. Die erhofften Windbeutel wurden allerdings nicht angeboten. Am mittleren Nachmittag war eine zweite Tour fällig. Wir wählten den „Fußweg zum Westen“, der in die „Straße zum Westen“ mündet und liefen bis zum Westturm/Jugendherberge. Nach Rückkehr waren wir platt. Kurz noch zu Rossmann. Und wer saß dort an der Kasse ? Faustdicke Überraschung: Die noch am Sonntag als Immobilien-Expertin auftretende Miss Fisher.
Kath Kirche St Willehad
Mittwoch, 8. März 2023
Wir wachten auf und sahen, dass es geschneit hatte. Nun ja, warum nicht. Während des Frühstücks schneite es weiter. Nach dem Frühstück kam die Sonne raus und brauchte den ganzen Tag, um 90 % des Schnees wieder wegzutauen. Nochmals: Nun ja. Das Tagesprogramm bestand aus einer Wanderung zum Hafen, um unser Verständnis der Insel-Logistik zu vertiefen. Es war spürbar weniger windig als gestern, das Meer aber noch ziemlich in Bewegung. An der Jugendherberge trafen wir auf wenig Jugend, die uns auch keine Aufmerksamkeit schenkte. In der Nähe wurden gebündelte Büsche zwischen einem Treckergespann und einem holländischen Sattelschlepper hin und her geladen und dann von und zum Hafen gefahren. Unverständlich bis mysteriös. Solche Büsche werden in die Dünen gesteckt, vermutlich als Windschutz zur Befestigung der Dünen. Am Hafen wurde nicht mit Kränen, sondern mit großen Gabelstaplern verladen, deren Diesel-Abgasgestank uns schnell wieder vertrieb. Von dem von Miss Fisher erwähnten „Frachtschiff“ Wangerooge-Express holte der Gabestapler Halb-Container (halbe Länge wie ein Standard-Container TEU „Twenty Foot Equivalent Unit), die auf dem Schiff nebeneinander quer zur Fahrtrichtung gestellt waren. Diese Halbcontainer wurden auf Pritschenwagen der Inselbahn gehievt, wahrscheinlich, um sie am Wangerooger Bahnhof wieder zu entladen. Die spannende Frage, wie es damit dann weitergeht, konnten wir nicht lösen. Weitertransport am Stück ? Unwahrscheinlich. Entladen des Inhalts und Teiltransport ? Man weiß es nicht. Den Rückweg wählten wir größtenteils jenseits der Dünen am Strand entlang. Nach diesem 11,5 km-Trip waren wir wieder reichlich groggy. Später besuchten manche von uns die Heilige Messe in der gut besuchten kath. Kirche St. Willehad mit einigen ungewohnten Gepflogenheiten. Im Kern katholisch, in der Form nahezu protestantisch.
Insel-Logistik
Schnigg und kein Schnigg
Tiere in Wangerooge
Viele Tiere haben wir nicht gesehen. Mehr Raben als Möwen. Enten, viele Gänse. Keine Kühe, keine Schafe, einzelne Pferde. Beeindruckend war die Gänsekacke. Gänse kacken große, in Haufen zusammengestellte Würste, die an kleine Nürnberger Bratwürstchen erinnern.
Donnerstag, 9. März 2023
Das Wetter war bis 15 Uhr super, danach usselte es leicht ab. Das Wetter bewegt sich ständig zwischen Aufsupern und Abusseln. Dazwischen können lange Phasen des Stillstands liegen und ob es als Super oder als Usselig zu bewerten ist, steht hier nicht zur Debatte.
Der Tagesplan sah eine 11-km Wanderung am südlichen Dünenrand um die Ostspitze vor. Im Verlauf wird der Dünenrücken immer schmaler und Hin- und Rückweg liegen keine 150 Meter auseinander, bieten aber völlig unterschiedliche Eindrücke. Zunächst milde, flache Sonnigkeit und das Gefühl von großer Weite, tiefer Ruhe und Verlockungen des tiefen, tiefen Südens. Auf der Nordseite dann das offene Meer mit Ausblick auf die Brandung und Schiffe, die am Horizont von links nach rechts und umgekehrt fahren. Wir sahen (mal wieder) das multifunktionale Technikschiff „Neuwerk“, das für verschiedene Aufgaben in Cuxhaven stationiert ist. Von weitem sieht es aus wie ein kurzes Schiff mit Anhänger, aber es ist tatsächlich ein Gerät mit sehr flachem Mittelteil. Ein weiteres 140 Meter langes Technikschiff öckerte herum: Die Vox Ariane der Firma Van Oord, ein mit einem riesigen LNG Tank ausgerüstetes Baggerschiff. Was es in 500 Metern vor Wangerooge zu baggern gibt, konnten wir nicht rausfinden. Später, zur blauen Stunde, unternahmen wir die zweite Essen-Gehung unseres Aufenthalts. Diesmal, trotz vorher im Internet zur Kenntnis genommener schlechter Kritiken, bei Friesenjung, einer Art gehobene Imbissbude mit Sitzgelegenheit, die als Bordrestaurant in das Hotel Upstalboom an der Strandpromenade integriert ist. Konzept ist Systemgastronomie ohne professionelles Personal. Es überwog überraschenderweise das Aufenthaltsgefühl „relaxed und entspannt“. Dank Selbstbedienung wurde man in Ruhe gelassen und verschont mit Fragen wie (bitte mit um eine Oktave angehobener Stimme laut sprechen): „Ist bei Ihnen noch alles in Ordnung ?“ Es gab jedoch einen ernsten Zwischenfall in eigener Sache: Wir fanden, dass das bestellte alkoholfreie Jever gar nicht so übel schmeckte, wie erwartet. Als es ausgetrunken war, streifte der Blick das Etikett. Von alkolfrei war dort keine Rede. Mist. Mit diesem Faux pas setzten wir ungewollt, aber irreversibel, den Beginn der Fastenzeit 2023 wieder auf Null.
Wanderung um die Ostspitze
Freitag, 10. März 2023
Unser Lieblingswetter: Kalt \ Grau \ Windig. Wer mag das nicht ? Beim Lieblingsbäcker bediente außer der Frau mit der Omma in Kroatien noch eine andere mit adrettem Kurzhaarschnitt/ggf. Frisur, schwärzlicher Färbung. Der Bäckereibesuch spielt eine Rolle im weiteren Tagesablauf. In der Regionalliteratur haben wir gelernt, dass Einheimische ihre Verstorbenen auf dem Friedhof bestatten. Soweit, so ungewöhnlich. Bei Auswärtigen hingegen ist die Seebestattung schwer in Mode, vielleicht sogar im industriellen Ausmaß. Praktisch für die Hinterbliebenen : Kein Kümmerungsaufwand wie Grabpflege, Gedenktage, Treffen am Jahrestag. Das geht so: Lokale Anbieter besitzen ein woanders ausrangiertes Schiff und organisieren die Seebestattung mit eingeübten Ritualen. Sie fahren ca. 3 bis 5 km raus. Umgerechnet auf den Raum Wangerooge: Vom Anleger Harlesiel (linke Seite von Süden aus gesehen) geht es bis zum Gatt zwischen Spiekeroog und Wangerooge. Dort wird die Urne versenkt und die Gäste haben Gelegenheit, Blumen hinterher zu werfen. Das Boot fährt drei Runden um die Stelle, läutet 4 Doppelschläge mit der Glocke und spielt das vereinbarte Musikstück, z.B. „La Paloma“ oder „Junge, komm bald wieder“ von Freddy Quinn. Dann geht es zum gemütlichen Teil über und man verzieht sich unter Deck, wo Kümmelschnaps und ortstypischer Butterkuchen gereicht werden. Die Blumen werden durch die Strömung an den Strand getrieben, wo man sie aufsammeln und zuhause in der Blumenvase einer praktischen Zweitverwendung zuführen kann. Wir haben solche Blumen gefunden, und es waren immer rote Rosen, auch solche ohne Blütenköpfe, weil diese bei Seehunden als Leckerbissen gelten. Noch nicht geklärt ist der auffällig vermehrte Fund von angeschwemmten angefressenen Rettichen. Wie komme ich darauf ? Ach ja – wir haben die Prozedur etwas abgekürzt und bei Lieblingsbäcker Kruse den Butterkuchen direkt gekauft, ohne den Umweg einer Seebestattung. Da heute unser süßer Tag ist, gab es zuvor bei dem am Wochenende, also ab heute geöffneten kleinen, aber teuren Café Klönschnack deren berühmte Buttermilchwaffel mit Pflaumenmus und echter Sahne. Echte Sahne ist bundesweit in der Gastronomie selten geworden, man verwendet heute eine sahneähnliche kniestige Creme, die auch in der Hitze tagelang steif bleibt. Am Nebentisch lief eine insulare Beratung zum Thema Wärmepumpe, wir lauschten aufmerksam. Zahlen Sie bar oder mit Karte ? Undsoweiter.
Am späten Nachmittag nochmals Einkehr beim Friesenjung, wo es gewohnt nachlässig und schusselig zuging. Draußen heulte der Wind, schlug der Regen gegen das Fenster, war es angenehm warm. Auf dem Tisch verbreitete die LED-Lampe mit induktiver Aufladung Gemütlichkeit. Beim Rausgehen konnten wir kaum die Tür festhalten. Unsere neue Lieblingskneipe.
Wangerooge hat sich über die Woche stetig gefüllt. Der Eindruck vom Sonntag „stille und fast vergessene Insel“ kann nicht mehr aufrecht erhalten werden und wird runtergestuft auf „nicht voll im Mainstream liegende Insel“.
Nachtrag : Umrahmt von Wanderungen zum Ostdeich und rund um den Bahnhof, sowie zum Inselfriedhof südlich von Haus Bielefeld, kehrten wir am Samstag, 11. März noch 2 mal bei Friesenjung ein – vor und nach dem Gottesdienst in der Ev Kirche St Nikolai „Musik und Wort zur Passionszeit“. Das Captain’s Dinner. Wir würden es abwerten, wenn wir es als „zum Fuck-yourself-Preis“ einstufen würden. Es war wirklich ok, in unserer Lieblingskneipe.